Unbenannt-2

raw

Die Natur kennt kein „zu viel“. Totenhagen ist ihr Medium, und Raw ist Totenhagen in a nutshell. Die künstlerische Manifestation der Divine Feminine, die in Form einer kollaborativen work-in-progress im Begriff ist, sich vom rollennormativen Ballast ihrer Herkunft zu lösen, und uns mitnimmt auf eine Reise zur Evolution ihres eigentlichen Selbst. Mit Mitteln der audiovisuellen Genreverschränkung wird dabei der Umarmung des Hellen, Zugänglichen und ästhetisch Pointierten genauso viel Raum gegeben wie der des Dunklen, Ungewohnten, Eckigen. Monothematische Vorhersehbarkeiten machen Platz für den ganzen Kosmos einer Künstlerinpersönlichkeit, die lieber über sich hinaus wächst, als auf der Stelle zu treten. Lebendigkeit bedeutet Bewegung. Wer sich auf dieses Spiel mit den eigenen Erwartungen einzulassen versteht, die Musiker*innen beim Wort nimmt, und genau hinhört, wird nachvollziehen können, wie befreiend es sein kann, von sich selbst abzusehen, und der eigenen Komfortzone ins Gesicht zu lachen.


Die vielen Gesichter der Laura Totenhagen - ein Prisma am anderen Ende unseres eigenen imaginären Tunnels. Ihr Eklektizismus ist ungleich Beliebigkeit. Mehr Schmetterling als Chamäleon. Und Raw steht dabei für Metamorphose und Zäsur: erstmals wird all den unterschiedlichen, künstlerischen Auskopplungen der Kölner Sängerin im Sinne mehrerer Seiten derselben Münze Rechnung getragen. Der kontemplative Reduktionismus des früheren, gleichnamigen Bandprojekts, welches seiner Zeit die Grenzen der minimalistischen Creative Music virtuos auslotete, wird nun von einem gewissen Maximalismus abgelöst, der dem inneren und äußeren Dynamik-Spektrum des Menschen Totenhagen in ihrer ganzen kaleidoskopischen Vielfalt gerecht wird. Konzeptionell mutig, doch zu keinem Zeitpunkt prätentiös haucht sie dem eigenen Familiennamen mit sowohl zärtlichen als auch rabiaten Methoden abermals neues Leben ein. Vielmehr röhrt sie, zwitschert, und schmatzt, und singt. Als emanzipatorische Verwandlung des eigenen akademisch geprägten Mindsets in ein mehrdimensionales Gesamtkunstwerk, an dem man sich die Finger verbrennen kann.


Echte Revolution funktioniert am besten mit Gleichgesinnten - das weiß auch Laura Totenhagen. So sprechen wir auch diesmal keineswegs von einer Einzelgängerin. Auf Raw betritt sie auf musikalischer und visueller Ebene mit einer exklusiven Auswahl internationaler Duo-Partner*innen das nächste Level. Alliierte im Geiste, auf dem Weg zu einer neuen Form des intuitiven Ausdrucks, die sich keinem scheinbaren Regelwerk unterwirft, und dabei immer authentisch bleibt. Wer nun meint, bereits ahnen zu können, was einen erwartet, beim altbewährten Prinzip der Improvisation als Haltung, der irrt im Falle Totenhagen gewaltig. Der Avantgarde-Begriff in der Kunst hat einen Bart. Welch Schönheit in der Rohheit sich verbirgt, vermag allenfalls noch die weitestgehend unbehaftete Tradition der Hardcore-Kultur zu offenbaren, deren Grat zum intersektionalen Feminismus bekanntlich ein schmaler ist. Und so kommt es nicht von irgendwo her, dass Laura Totenhagen auf Raw mit den instrumental sehr divers aufgestellten Ausnahmemusiker*innen DoYeon Kim, Sara Schoenbeck, Nick Dunston, Anton Kaun und Lucy Liebe ein einigermaßen radikales Statement in Form einer 34-minütigen Langspielplatte abliefert, plus fünf äquivalente EPs, die sich sukzessive anschließen.  Eine eklektische Berg- und Talfahrt mit ihrer Stimme als kohärentes Bindeglied, die das genreübergreifende Wesen der Improvisation mit genauso klangmalerisch dichten wie freiwillig-unfreiwillig komischen Ansätzen vereinigt, nur um diese nach dem ein oder anderen hyperdynamischen Exzess schließlich in einem lyrischen Finale episch aufzulösen.

So etwa bei „Grill, Roast, Spark“ - einer Art freiem Fall nach oben für Kontrabass und Stimmbruch. Nick Dunston ist zugleich Wächter und Erneuerer des afroamerikanischen Modern Creative am Bass, und stellt mit Totenhagen mittig von Raw die dynamische Sollbruchstelle des Longplayers dar. Mit der koreanischen Wahl-New Yorkerin DoYeon Kim, die mit Dunston im Projekt „Spider Season“ zusammenarbeitet, bildet Totenhagen den imposanten Duo-Auftakt der A-Seite, die ganz im Zeichen der großen Kunst des Instant Composing steht. Ein gewisser insektoider Charakter wohnt dabei nicht ohne Zufall auch Stücken wie „Soil Dwellers in Limbo“ inne. Mittels höchst origineller Spieltechniken hat sich Kim auf dem Saiteninstrument Gayageum einem innovativen Update traditioneller koreanischer Musik verschrieben, welches stilistisch von krabbelnd bis hart rockend Totenhagens Vokalisen gleichermaßen umschmeichelt wie kontrapunktisch herausfordert. Wir gehen noch einen Schritt zurück, und unternehmen sogleich zwei nach vorn, wenn Sara Schoenbecks Fagott Totenhagens fantasievollem Storytelling souverän die Hand reicht. Psychedelisch finden wir uns wieder im kammermusikalischen Salon eines vorigen Jahrhunderts, nur um diesen schließlich im Schweiße unseres Angesichts als ein 2024er Tonstudio in Brooklyn zu identifizieren. Mit einer unvergleichlichen Sensibilität für Dynamik und Dramaturgie werden im Duo mit der amerikanischen Avantgarde-Jazz-Fagottistin ätherische Klangwelten in Echtzeit geschaffen, die unterhaltsam zwischen dem progressiven Anspruch der Creative Music und der Ästhetik der zeitgenössischen Kunstmusik changieren. Wachstum als Ansage durch maximale Hybridisierung. “Shallowtail Butterfly”.

Die B-Seite als B-Movie: Mit Hall und Schminke, und dem metallischen Geruch eines Industrial Workshops erfahren Totenhagens Auskopplungen auf „Storm Of The Microbats“ einen Kippmoment kratzbürstiger Rückkopplungen. In einem wilden Joint Venture mit dem Münchener A/V-Elektroniker Anton Kaun, ferner auch bekannt als „Rumpeln“, packt sie den Good Girl-Platzhirsch endgültig bei den Hörnern, und jagt ihn über ein elektroakustisches Minenfeld von Stereotypen, die in diesem Leben noch torpediert werden wollen. Eine ganze Batterie von Processed Vocals und Live-Electronics nehmen ein Noise-Bad in der Menge unserer Wahrnehmungsrezeptoren, und fordern knatternd mit Nachdruck: alle Regler nach rechts! Dass letztlich keines der Stücke auf RAW weder gänzlich improvisiert noch auskomponiert ist, zeigt dabei wohl keins so eindrucksvoll wie „Sky Doll“. Lauscht man dem Closing Track von Totenhagen und der nordrhein-westfälischen Wahlberlinerin Lucy Liebe, einer unerschrockenen Multi-Instrumentalistin mit ihrem ganz eigenen sprichwörtlichen Werdegang, der von Jazz bis Dream Pop reicht, so stellt sich nicht mehr die Frage nach dem Was. Wir bleiben bei eben empfohlener Lautstärke, und weiden uns in anmutiger Resignation am Breitwand-Reverb von Gitarre und Gesang: atmende Landschaften destilliert zur Essenz, Luftflimmern am Horizont, ein Spätsommerhit.


Der überstrapazierte Begriff der Ganzheitlichkeit erfährt eine ambivalente Dimension der Notwendigkeit, wenn die feministischen color codes des Konzeptalbums in den Arbeiten der New Yorker Kostümbildnerin und Skulpturistin Caroline Zimbalist und der New Yorker Fotografin Bảo Ngô subversiv konvergieren. Lavendel, zudem fleischfarben, berry und rot: Auf die Probe gestellte Hörgewohnheiten stehen einer genauso süßlichen wie verstörend sinnlichen Ästhetik gegenüber, die Totenhagens Vision einer brutalen Ehrlichkeit in der Kunst entspricht. Raw ist somit keineswegs mit einem falsch verstandenen Mut zur Hässlichkeit zu verwechseln. Die „art of duo“ als wahrscheinlich archaischste aller Besetzungen gleicht durch ihre audiovisuelle Symbiose eher einem heißen Dampfdruckkessel, der bei der Protagonistin wie auch beim Publikum unterschiedlichste emotionale Aggregatzustände zum Vorschein bringt. Wir werden Zeug*innen der ultimativen totenhagenschen Dialektik mit all ihren expressiven Parametern, und stellen fest - gleich einem Aphorismus, der erst durch mehrfache Übersetzungen in unterschiedliche Sprachen zur vollen Entfaltung seiner eigentlichen Bedeutung findet - wieviel Tiefe, aber auch Leichtigkeit und Witz in der künstlerischen Schonungslosigkeit erkennbar wird.


RAW, ein Anagramm von WAR als Feldzug gegen die Entfremdung vor der eigenen Natur, mit Totenhagen als Final Girl Ellen Ripley, die im „unsafe space“ einer allzu organischen H.R.Giger-Kulisse dem patriarchalen Erwartungsfetischismus ihrer Zeit gelassen die Stirn bietet. Diese Platte ist kurzweilig, und lässt einen hungrig zurück. Eine charmante Provokation inklusive Nachhall in unseren schwirrenden Köpfen - zwischen Schönheit, Schatten und vermeintlichem Schmutz. Surrender!


Louis Rastig, freier Kurator, 2024